In der Netzwerkwelt - und damit auch in der Internetwelt - gibt es viele Gruppen von Entwicklern, die teilweise völlig unterschiedliche Ansätze zur Technologieentwicklung haben. Man spricht im Jargon gern und häufig von den so genannten Bellheads und Netheads, zwei Entwicklerfraktionen, die noch gegensätzlicher fast nicht sein können. In immer größerer Ausprägung gibt es jedoch weitere Entwicklergruppen, die sich auf immer spezifischere Teilmengen bestimmter Technologien beschränken.
Entwicklerfraktionen
Entwicklungsarbeit ist von Interessen geprägt. In den meisten Fällen sind dies wirtschaftliche Interessen, beispielsweise von Firmen, die entsprechende Technik zur Nutzung von Standards herstellen. In anderen Fällen hat die Standardentwicklung aber auch durchaus ideelle Hintergründe.
Neben den zwei bekannten Fraktionen der Bellheads und Netheads gehen wir an dieser Stelle von drei weiteren Entwicklergruppen aus, die ebenfalls maßgeblich an der Internet-Entwicklung beteiligt sind.
Bellheads - Die "Telefonleute"
Als Bellheads werden Entwickler aus der Telefoniebranche bezeichnet. Die Telefoniebranche beruht seit Anfang an vor allem von der Idee der Leitungsvermittlung; Information wird übertragen, in dem zwischen Absender und Empfänger eine durchgehende Leitung als Übermittlungskanal geschaltet wird, die exklusiv für diese Übermittlung geschaltet wird (siehe hierzu auch Arten von Netzwerken). Auf dieser Idee beruht das gesamte "herkömmliche" Telefonsystem und auch Datenübertragungstechniken und Dienste, die aus dem Lager der Bellheads stammen, beispielsweise Bildschirmtext (BTX), ISDN oder Netzwerkprotokolle, die strikt nach dem abstrakten OSI-Schichtenmodell entwickelt wurden.
Organisierend tätig in der Telefoniebranche sind die internationalen Telekommunikationsverbände, allen voran die International Telecommunication Union (ITU). Innerhalb Europas führend ist das European Telecommunications Standards Institute (ETSI), das beispielsweise federführend für die Entwicklung der Mobilfunkstandards GSM und UMTS ist. Solche umfassenden Entwicklungen und Standards sind demnach auch einer der Markenzeichen der Bellhead-Szene, denn solche Entwicklungen benötigen stark formalisierte und effiziente Entwicklungsprozesse, um an Ende einen fertigen Standard zu erzeugen.
In diesen Verbänden sind vor allem Telekommunikationsausrüster, Telekommunikationsanbieter, aber auch nationale Telekommunikationsbehörden vertreten, die gemeinsam Projektgruppen zu bestimmten Entwicklungsthemen bilden und eigene Vertreter dorthin entsenden. Diese Projektgruppen arbeiten dann gemeinsam und stimmen über den fertigen Standard ab, wobei offizielle Regierungsvertreter grundsätzlich immer ein Veto-Recht haben, also die offizielle Verabschiedung eines ITU-Standards blockieren können.
Es liegt auf der Hand, dass in der Bellhead-Szene weniger die Stimme des Einzelnen zählt, als die des Unternehmens, bei dem der Einzelne beschäftigt ist. Andererseits sind Entwicklungen in der Bellhead-Szene eben deutlich stringenter, strukturierter und auch schneller.
Netheads - Die "Internetleute"
Netheads sind Entwickler und Anhänger aus der Internetszene und deren Entwicklungsarbeit unterscheidet sich fundamental, in vielen Bereichen fast sogar diametral zu der, wie sie die Bellheads tun. Basis aller Technologien ist bei den Netheads traditionell die Paketvermittlung, die die Grundlage des Internet und IP-basierter Netzwerke und Protokolle darstellt.
Zentrum aller Entwicklungsarbeit in der Nethead-Szene ist die IETF, die Internet Engineering Task Force. Die IETF hat fast gänzlich andere Statuten und Diskussionsstile als Veranstaltungen der Nethead-Szene; beispielsweise kann bei der IETF jeder Entwickler (und auch Möchtegern-Entwickler) aktiv werden und an Arbeitsgruppen teilnehmen, denn es gibt weder eine Mitgliedsgebühr, noch ein Gebot, dass nur Firmenmitgliedschaften gestattet wären. Die IETF wird hierzu von der Internet Society mit Finanzmitteln ausgestattet, während lediglich die regelmäßig stattfindenden IETF-Meetings zu einem großen Teil durch Teilnahmegebühren der Entwickler finanziert werden. Im Gegensatz zu Meetings in der Bellhead-Szene liegt jedoch auch hier der Augenmerk darauf, dass auch einzelne, arbeitgeberunabhängige Entwickler solche Meetings bezahlen können, wenngleich freilich die meisten Teilnehmer aus internetspezifischen Unternehmen kommen und die Interessen ihrer Arbeitgeber vertreten.
Lesen Sie für weiterführende Informationen den Artikel Standardisierung im Internet.
Engineerheads - Die "Elektroleute"
Das IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers) ist mit über 360.000 Mitgliedern in 175 Ländern der größte, nicht-kommerzielle Berufsverband von Elektrotechnik- und Informatikingenieuren weltweit. Er entstand im Jahre 1963 durch einen Zusammenschluss des AIEE (American Institute of Electrical Engineers) und des IRE (Institute of Radio Engineers). Die Reputation des IEEE lässt sich schon aus dem Alter der Vorgängerinstitute ableiten; das IRE wurde bereits 1912 gegründet, das AIEE gar schon im Jahre 1884 - zu einer Zeit, in der die ersten telegrafischen Unterwasserverbindungen zwischen Europa und Amerika gelegt wurden und in immer mehr Städten elektrisches Licht Einzug hielt. Das IEEE bzw. die beiden Vorgängerinstitutionen, sorgten mit ihren Arbeiten dafür, viele Standards in der Welt der Elektrotechnik zu setzen - zu den prominentesten Mitgliedern gehörte beispielsweise Thomas Alva Edison, unter anderem Erfinder der Glühbirne und Mitgründer des Konzerns General Electric (GE).
Im Bereich der Informatik setzte das IEEE mehrere, bedeutende Standards, unter anderem die Centronics-Schnittstelle (Parallel-Port) im Standard IEEE 1284, die FireWire-Schnittstelle in IEEE 1394, die Fliesskomma-Arithmetik in IEEE 754 und unter anderem auch die Netzwerkprotokolle für lokale Netzwerke in IEEE 802 - dem so genannten Projekt 802 (siehe hierzu auch Lokale kabelgebundene Netzwerke).
Im Gegensatz zu Entwicklungen der Bellheads oder der Netheads verfolgten die Engineerheads im Projekt 802, wie der Untertitel der Projektgruppe besagt, lokale Netzwerke, also Netzwerke, die zunächst auf wenige hundert Meter beschränkt waren. Der berühmteste Protokollvertreter aus diesem Projekt ist das Ethernet-Protokoll, aber auch so Netzwerkprotokolle wie Token Ring, WLAN oder WiMAX sind im Projekt 802 zu Hause, ebenso wie einige Netzwerkstandards, die sich mit dem Zusammenspiel von Übertragungsprotokollen niedriger und höherer Schichten im OSI-Schichtenmodell (siehe hierzu auch Schichtenmodelle) befassen.
Eine Besonderheit von verabschiedeten IEEE-Standards ist, dass diese immer auch nationale Standards in den USA sind, da das IEEE ein von den USA anerkanntes Normierungsinstitut ist. Dieser Umstand erleichtert IEEE-Standards auch deutlich den Weg zu globalen ISO-Standards, da Standards anerkannter nationaler Normierungsstellen normalerweise auch internationaler ISO-Standard werden.
Vor allem dieser Anspruch ist ein zentrales Credo des gesamten Prozesses der Standardentwicklung innerhalb der IEEE-Gremien. Zwar kann grundsätzlich auch bei IEEE-Standardisierungsprozessen jeder teilnehmen, der möchte, aber schon zu Abstimmungen innerhalb einer IEEE-Arbeitsgruppe sind nur Teilnehmer berechtigt, die an zwei der letzten vier Treffen zu mindestens 75 % der Zeit anwesend waren. Im weiteren Verlauf des Standardisierungsprozesses liegt weiterhin ein großer Schwerpunkt auf einer strengen Qualitätskontrolle, in dem ein unabhängiges IEEE-Gremium eine Supervision der Standardisierungsvorlagen vornimmt.
Diese relativ strengen Maßstäbe sind weitgehend IEEE-typisch und auch verständlich, wenn Sie dabei bedenken, dass andere IEEE-Standards, dank der Ausrichtung des Institutes an Themen der Elektrizität, durchaus sehr sicherheitsrelevante Belange haben.
Genau betrachtet gibt es keine fest definierte Grenze zwischen den Entwicklungsgruppen des IEEE und klassischen Normierungsinstituten. Während die Engineerheads einen weitgehend fest definierten "Spielplatz" haben, nämlich die Elektrotechnik und die Elektronik, befassen sich klassische Normierungsinstitute mit einem erheblich größeren Feld, nämlich praktisch allen Belangen der modernen Technik und Dienstleistung, in denen eine verbindliche Normierung notwendig ist. Dennoch ist es sinnvoll, Entwicklungsarbeit der klassischen Normierungsinstitute in eine eigene Entwicklerfraktion gruppieren:
Normheads - Die "Normierungsleute"
Zu den Normheads zählen "klassische" Normierungsinstitute, wie zum Beispiel die nationalen Normierungsbehörden American National Standards Institute - ANSI (USA), Deutsches Institut für Normung - DIN (Deutschland), Österreichisches Normungsinstitut - ON, Schweizerische Normen-Vereinigung - SNV et cetera. Als übergreifende Einheit dieser nationalen Institute fungiert die International Organization for Standardization - ISO, die jedoch auch für die Standardisierung von Entwicklungen in den oben genannten Entwicklerfraktionen zuständig ist und als oberste, international anerkannte Standardisierungsinstanz fungiert.
Normierungsinstitute sind in der direkten Entwicklung von Internet-Standards weitgehend nur begleitend involviert und übernehmen in der Regel Standards von technisch orientierten und anerkannten Normierungsgruppen, beispielsweise dem IEEE. Dies begründet sich vor allem in der Tatsache, dass klassische Normierungsinstitute für Normen in vielen anderen (und auch nichttechnischen) Bereichen des täglichen Lebens zuständig sind und technische Entwicklungen eher in spezialisierten Normierungsgruppen stattfinden. Eine Ausnahme ist die International Electrotechnical Commission (IEC) in Genf, die als "elektrotechnische Abteilung" der ISO und den angeschlossenen Normierungsinstituten dient. In Deutschland arbeiten das DIN und der VDE (Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik) auf internationaler Ebene mit dem IEC in der ISO.
Interestheads - (Un)Abhängige Interessensgruppen
Unabhängige Interessensgruppen gehören in der Welt der Standards zu den "großen Unbekannten". Vielen Firmen und Fachleuten, denen die Entwicklung von Standards in Normierungsgruppierungen und den einschlägigen Arbeitsgruppen zu langsam und zu unspezifisch geht, greifen gern auf das Mittel einer eigenen Interessensgruppe zurück, um schneller einen Standard zu entwickeln. Der Begriff "Standard" ist hierbei in vielen Fällen eigentlich nicht richtig, oft genug handelt es sich um Quasi-Standards, die da entwickelt werden, oft genug auch nur um "Möchte-gern-Standards", die oft genug keiner qualifizierten und neutralen Betrachtung standhalten.
Solche Entwicklungen einzelner, unabhängiger Interessensgruppen gibt es im Internet zuhauf, besonders in Produktbereichen, in denen ein starker Wettbewerb und eine hohe Nachfrage herrscht. Ein solches Beispiel ist die WLAN-Technologie, die offiziell in der IEEE-Arbeitsgruppe 802.16 standardisiert wird (siehe hierzu auch Drahtlose lokale Netzwerke, Teil 1: WLAN). Da der Markt jedoch stark umkämpft ist und eine hohe Nachfrage nach WLAN-Technologien mit höheren Bandbreiten besteht, haben sich einige Hersteller im Jahre 1999 zur so genannten Wi-Fi-Alliance zusammengeschlossen, um auf diesem Weg schneller Standards zu entwickeln, die zumindest mit Geräten aller Wi-Fi-Alliance-Mitglieder funktionieren und die wiederum dann das offizielle Logo der Wi-Fi-Alliance benutzen dürfen.
Andere Beispiele finden sich häufig in vielen Web-Protokollen, ein klassischer Fall sind die Tabellenbefehle in HTML. Diese entstammen nämlich keinen offiziellen Entwicklungen, sondern sind ursprünglich proprietäre Entwicklungen von Netscape gewesen und funktionierten naheliegenderweise zunächst auch nur mit den hauseigenen Browser-Versionen, sehr zum Ärger vieler Web-Programmierer, die viele Jahre lang mit teilweise sehr unterschiedlichen Browser-Eigenheiten zu kämpfen hatten. Genau genommen handelt es sich beim World Wide Web Consortium (W3C), der Organisation, die sich um die Weiterentwicklung vieler Web-Protokolle und dem XML-Standard kümmert, ebenfalls um eine industriell dominierte Interessensgruppe, die abseits von Industrienormungen Standards entwickelt und vor allem auch deshalb zwar weithin anerkannt ist, aber eben nicht überall. Dieses Misstrauen zeigt sich unter anderem auch darin, dass viele kleine XML-Formate, so genannte Mikroformate, jenseits von irgendwelchen Entwicklergruppen, teilweise sogar von Privatleuten (wie bei RSS), geschrieben werden und oft massive Inkompatibilitätsprobleme aufwerfen. Ganz zu schweigen von rechtlichen, denn gerade der ursprüngliche RSS-Entwickler beanspruchte im Laufe seiner Entwicklungsarbeit für eine neuere RSS-Version die intellektuelle Rechtsansprüche auf sein Format. Diese Grauzone brachte Google dazu, auf das Anbieten von RSS weitgehend zu verzichten und ein ähnliches Format namens Atom zu forcieren.
Entwicklungsarbeiten innerhalb unabhängiger Interessensgruppen können so auch signifikante Nachteile haben. Ein bedeutender Nachteil ist, dass Entscheidungsprozesse keinerlei Form unterliegen müssen. Faktisch gesehen können einzelne Unternehmer in einer eigenen Interessensgruppe eigene Standards "ausbaldowern" und sie sich selbst lizenzieren, so dass die Konkurrenz, die nicht in der Interessensgruppe vertreten ist, weitgehend abgeschottet würde. Andere Abwehrszenarien sind finanzielle oder personelle Ungleichgewichte in der Organisationsstruktur solcher Interessensverbände.
Der größte Nachteil ist jedoch die fehlende Verbindlichkeit von Standards, die von unabhängigen Interessensgruppen definiert werden. Niemand kann die Seriosität der Interessensgruppe ohne weiteres nachprüfen, zudem ist nicht gewährleistet, dass der Standardisierungsprozess ähnliche Diskussions- und Prüfprozesse durchläuft, wie in anderen Entwicklerfraktionen. Besonders fatal zeigen sich solche Mängel in Standardisierungsverfahren in der Interoperabilität und Kompatibilität zu alten oder neuen Standards, die letztendlich dazu führen, dass ein schlampig entwickelter Standard sehr schnell genau das Gegenteil erreicht, was er eigentlich bezwecken soll.
Weiterführende Links
http://www.etsi.org/
Homepage des European Telecommunications Standards Institute
(ETSI)
http://www.ietf.org/
Homepage der Internet Engineering Task Force (IETF)
http://www.ieee.org/
Homepage des Institute of Electrical and Electronics
Engineers (IEEE)
http://www.iso.org/
Homepage der International Organization for Standardization
(ISO)