Über den Zerfall der Kultur

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von Timo Fuchs
veröffentlicht erstmals in der Newsgroup de.comm.internet.misc am 11. August 2000.

Was ist los, was ist es nur?

Das Usenet. Alles entwickelt sich weiter. Die Erde dreht sich. Die Natur reinigt sich mit Hilfe der Darwin'schen Gesetzen selbst. Die natürliche Selektion hilft uns, dass wir über die Generationen immer stärker werden. Sie hilft uns, Schwäche, Dummheit zu überwinden und eine schönere, bessere, gesündere Welt zu schaffen.

Warum ist das Usenet nicht davon betroffen?

Wer ist es, sag mir, wer es ist!

Ein erstaunliches Phänomen tritt auf; der im Usenet postende Mensch (homo nutznecis) erfährt im Laufe der Generationen keine Evolution, sondern eher eine Devolution. Um diese Behauptung zu stützen, ist es hilfreich, die verschiedenen Entwicklungsformen aufzuschlüsseln:

  • Der TOFU-Poster (homo nutznecis tofundis)
    Dieses Phänomen ist auf die Entwicklung eines Werkzeugs zurückzuführen, was diese Spezies zum Posten in Newsgroups verwendet, es wird Outlook Express genannt. Das Posten ist natürlich nicht dessen eigentlicher Zweck, obgleich es uns noch nicht gelungen ist, diesen herauszufinden. Was ist die Grundintention des TOFU-Posters? Will er den Leser verwirren? Will er die Logik und die im Abendländischen Kulturkreis übliche Weise, Texte zu lesen, bzw. Zusammenhänge zu verfolgen, ad absurdum führen ? Wir wissen es nicht.
  • Der alles fordernde Poster (homo nutznecis flatratis)
    Diese Gruppe ist der Grund dafür, weswegen es der Gruppe der Dienstleistungen anbietenden Menschen (homo sapiens servicis) immer mehr Freude bereitet, Dienste möglichst kostenfrei anzubieten. Dieser dankbare Kunde hat freilich schwer zu befriedigende Ansprüche, was aber selbstverständlich die Anbieter antreibt, möglichst noch so anspruchsvolle Wünsche möglichst zur vollen Zufriedenheit zu erfüllen. Kostenlose Dienste werden gerne angenommen, natürlich ist es dann auch richtig, die dienstleistende Zunft auf Fehler in ihrem Gratisangebot möglichst drängend aufmerksam zu machen. Dieses Verhalten setzt sich auch im Usenet fort, denn wofür schließlich wurde das Usenet erfunden, wenn nicht zur Erfüllung der Wünsche dieser Gruppe Poster?
  • Der Mailonly-Poster (homo nutznecis repliens)
    Antworten auf Fragen, die diese Gruppe im Usenet stellt, sind natürlich ausschließlich auch für das fragende Individuum interessant. Und wenn nicht, spielt es keine Rolle, denn das Usenet ist schließlich eine Art alleswissendes Echo. Die Unterscheidung von Gruppe b) und Gruppe c) ist recht schwierig und wird von einigen Wissenschaftlern nicht vollzogen.
  • Der anonyme Poster (homo nutznecis norealnamis)
    Um brisante Fragen zu stellen ist es selbstverständlich nötig, dies anonym zu tun. Diese Gruppe hält Sicherheit für das höchste Gut des Menschen. Anregungen von Mitgliedern anderer Gruppen, doch einen richtigen Namen anzuwenden, sind natürlich nur ein Trick, um den Poster der brisanten Frage sich selbst bloßstellen zu lassen. Aber auf solche Tricks fällt diese Gruppe nicht herein. Vergleichbar mit dieser Gruppe ist die folgende ...
  • Der NOSPAM-Poster (homo nutznecis nospamandur)
    Auch diese Gruppe achtet auf ihre Sicherheit, denn wer heutzutage mit einer gültigen Emailadresse ins Usenet postet, wird von bösen Menschen mit gefährlichen Angeboten überhäuft. Um nicht erst in Versuchung zu kommen, auf eine der zahlreichen Offerten einzugehen, müssen sie sich davor schützen.
  • Der Alles-Scheiße-Poster (homo nutznecis nixgutis)
    Was diese Gruppe von den anderen unterscheidet, ist eine erstaunlich präzise Einschätzung des Zustands, in dem wir uns befinden. Dass die Welt langsam ihrem Ende entgegentrabt, nein galoppiert, ist für diesen Poster nichts neues. Er schafft es aber, in allem, was sich ihm bietet, ein Anzeichen dafür zu sehen. Die neueste Fernsehserie ist mies, die Übersetzung dieser genialen US-Serie ist katastrophal, der Zugang bei Provider XY ist nicht zu gebrauchen, das Modem des Herstellers AB ist gemeingefährlich, um nur einige der Feststellungen dieser Gruppe Poster vorzustellen.
  • Der Halbwissen-Poster (homo nutznecis non sapere)
    Im Bewusstsein, dass der durchschnittliche Nutznetzbürger sehr viel weniger Erfahrung im Umgang mit der in der Frage formulierten Problematik hat, als man selbst, versucht diese Gruppe, ihr geballtes Halbwissen zur Lösungsfindung zur Verfügung zu stellen. Dass dabei manchmal nicht ganz korrekte Ansätze verfolgt werden, ist ein Risiko, das sie einzugehen bereit ist.
  • Der Pascha-Poster (homo nutznecis pascatis)
    Das Internet wird immer umfangreicher. Informationen sind in beeindruckender Fülle vorhanden. Einzelne Antworten können praktisch nicht mehr gefunden werden. Also macht diese Gruppe das einzig nachvollziehbare: Sie fragt. Wozu immer das Rad neu erfinden ? Wozu selbst sich die Mühe machen und mühselig die Antwort, die man sucht, selbst finden, wo doch im Usenet lauter intelligente, allwissende Menschen nur darauf warten, jede noch so kleine Frage, sei sie auch noch so oft gestellt worden, mit Freude zu beantworten.
  • Der LINUX-Poster (homo nutznecis torvaldis)
    Zum Schluss kommen wir auf eine ganz besondere Gruppe. Diese Gruppe hat verstanden, dass nur sie alleine die Weisheit mit Löffeln gefressen hat und deswegen auch Gottes eigenes Betriebssystem, welches von einem aufgeweckten Finnen ins Leben gerufen wurde, benutzen. Es ist für sie auch nicht entscheidend, dass sie viele Aufgaben, die sie vorher mit ihrem einfachen, aber bösen™ Betriebssystem problemlos erfüllen konnten, mit LINUX nicht mehr lösen. Niemand hat behauptet, dass es die Elite leicht hätte. Wirklich dankbar muss man dieser Gruppe aber deswegen sein, weil sie Ihr Nirwana nicht für sich selbst alleine beanspruchen will, sondern möglichst alle Menschen daran teilhaben lassen. Dass man zum Überzeugen der Unseligen manchmal hart durchgreifen muss, wissen wir spätestens, seitdem tapfere Kreuzritter im Kampf für die einzig wahre™ Religion nicht davor zurückschreckten, Menschen zu töten.

Wo soll es hingehen?

Wir wissen, dass diese Liste nur einen Auszug aus dem beeindruckenden Einfallsreichtum von Mutter Natur sein kann.

Doch was wird in Zukunft sein? Wie weit wird diese Devolution noch gehen, wie stark wird die Degeneration des Usenetposters noch weiter fortschreiten? Werden irgendwann nur noch geistige Amöben vor dem Flimmern ihres Bildschirms sitzen und Dadaistische Zeichenfolgen auf ihrer Tastatur hacken? Es ist anzunehmen. Wir werden die Entwicklung jedoch weiter verfolgen, denn es wird eine besondere Herausforderung sein, die Versuche der zukünftigen Usenet-Poster-Generation, eine normale Sprache zu formulieren, auf wissenschaftlichem Wege zu analysieren.

Wir hoffen, mit dieser Abhandlung einige offene Fragen zu klären und wünschen allen Postern, zu welcher Gruppe sie auch gehören mag, noch viel Spaß in ihrem zukünftigen Leben und viel Glück bei der Darwin'schen Selektion, auch wenn sie nur im wirklichen Leben stattfindet.

Herzlichst,
Ihr Netzgewissen

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