Chat around the Clock tonight :-)

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von Melanie Eckenfels
http://www.mela.de/

Macht IRCen einsam? Sind Chatter wirklich die pickeligen, sozial und sexuell Gestörten, über die jede Zeitung, jedes Fernsehmagazin berichtet? Für die Ärzte, Psychologen und Therapeuten sind sie das. Denn diese bekommen nur die unglücklichen, die Gehetzten zu Gesicht. Die glücklichen Chatter werden sie nicht sehen, die brauchen keine Therapeuten, wozu denn auch? Für all die, die nicht auffallen, weil sie nämlich kein Fall für den Psychologen sind, gebe ich mal hier stellvertretend zu Protokoll: Ich bin glücklich!

Wer sind "die Chatter"? Was treibt sie ins IRC? Menschen die vom IRC fasziniert sind, sind meist nicht die Sonnyboys, das Klassenbabe, der Top-Sportler, die Angebetete. Eher sind sie die Schüchternen, die Stillen, die zu Dicken, die Hässlichen, die Unbeliebten. Denn im IRC gelten andere Spielregeln. Wer weiß schon, wie man aussieht, wie alt man ist, wer hört einen stottern oder nach Worten fischen? Niemand sieht einen erröten und keinem fällt es schwer, einem anderen in die Augen schauen zu müssen. Niemand wird gezwungen, zu kommunizieren; will man reden, schaltet man das IRC ein, will man nicht, lässt man es aus. Entscheidend ist nicht das gewinnende Lachen, die warme Stimme, oder der muskelbepackte Körper. Entscheidend ist nur die Fähigkeit, sich mit dem geschriebenen Wort auszudrücken und die Mitleser zu erreichen, zum Lachen zu bringen, Wissen oder Standpunkte zu vermitteln.

Die Ziele im IRC sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Die einen unterhalten sich über ihr Hobby, die anderen fachsimpeln mit Kollegen, wieder andere sind auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer oder beteiligen sich an Rollenspielen und sind mal ein edler Kreuzritter auf dem Weg nach Jerusalem und mal verteidigen sie ihr Dorf gegen den Angriff von Dunkelelfen.

Man schreibt und man erfreut sich am Geschriebenen der anderen. Man taucht in das IRC fast wie in ein Buch. Nur das man in diesem Buch das Ende nicht schon am Anfang erraten kann :-). Mit der Zeit lernt man seine Mitchatter kennen, erkennt sie an ihrem speziellen Humor, ihrer Art zu schreiben und zu beschreiben und es kristallisiert sich heraus, mit wem man gerne oder weniger gerne schreibt. Die eine oder andere IRC-Freundschaft entsteht. Oft teilt man Freud und Leid mit der Gemeinschaft, dem Channel, den man sich als virtuelle Heimat ausgesucht hat. Man redet über Probleme oft im Chat besser, als real, denn die Chatfreunde haben weit mehr Abstand und können klarer sehen, als die Familie oder RL-Freunde.

Und dann kommt der Tag, an dem wird IRC real: Eine Channelparty, Channelstammtisch oder eine Relayparty steht ins Haus. Man ist aufgeregt, macht Reisepläne, packt den Rucksack und sattelt das Gefährt, trifft Verabredungen mit besonders engen Chatfreunden. Vor Ort begrüßen sich die alten Hasen, die sich schon auf vielen Treffen gesehen haben, mit großem Hallo, während die Neuen noch etwas schüchtern rumstehen oder, den Blick fest auf die Namensschildchen geheftet, herumirren. Langsam lernt man sich neu kennen und die Redehemmung zerfällt. Dasselbe fröhliche Kreuz-und-Quer-Gequassel wie im IRC spannt sich über die Gruppe. Freundschaften werden vertieft oder verworfen, Vorstellungen vom Äußeren oder dem Alter der anderen werden bestätigt oder zu Fall gebracht. Und in der einen oder anderen Ecke schlägt buchstäblich der Blitz ein. Die Nächte sind kurz, die Gespräche lang. Wo der Blitz getroffen hat, kuschelt sich so manches Schlafsackbündel aneinander. Am Ende des Treffens fließen häufig Tränen darüber, dass die Harmonie des Treffens ab sofort wieder auf das rein virtuelle beschränkt sein soll.

Nach Ende der Treffen fangen die Räder aber erst richtig zu Rollen an. Kreuz und quer, durchs ganze Land und manchmal auch weiter. Da werden im Channel die billigsten Verbindungen heiß gehandelt, Mitfahrgelegenheiten vermittelt, Bahnpreise mit Kurzstreckenflügen verglichen und die Frage diskutiert, warum die Deutsche Bahn immer noch keine IRC-Server finanziert, wo sie doch so trefflich die Einkünfte der Chatter auffrisst. Zwischen den Wochenenden werden die Nächte durchgechattet, um dem Geliebten oder der Geliebten wenigstens virtuell möglichst nahe zu sein. Manch eine dieser Fernbeziehungen, oder neudeutsch auch LDR ("Long Distance Relationship") genannt, hält dies nicht durch und schläft wieder ein. Bei anderen werden Lebenspläne umgeworfen und neu gestaltet, gemeinsame Wohnungen und neue Arbeitgeber gesucht. Wieder rollen Räder, diesmal um Möbel und andere Besitztümer zum neuen Lebensmittelpunkt zu transportieren. Glückliche Paare rennen (jedenfalls die gemischt-geschlechtlichen) in die Standesämter und Kirchen und nicht selten wird im Kreise der Chatterfreunde gefeiert (was dann auch meist zu einer Art Channelparty gerät :-)). In der darauf folgenden Zeit sind die glücklichen Paare doch nicht mehr so oft online anzutreffen wie vorher noch :-). Alle anderen sind meist um Dutzende neuer Bekannter reicher. Und die nächste Channelparty kommt bestimmt.

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